Das Konzert
- Daniel Costantino
- 16. Dez. 2020
- 5 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 17. Juni 2021
Von einem alten Freund, der sich nachts nicht mehr alleine auf die Strasse traute, um Begleitung in ein spätes Konzert gebeten, fand er sich nach langen Jahren der Abstinenz unter einem feierlich gestimmten Publikum wieder, einem aufrechten Häufchen erwartungsfroher Liebhaber zeitgenössischer Klassik, wenn nicht gar mit den Musikern selbst bekannt und verwandt, das um runde Tischchen stand, an Sekt und Orangensaft nippte oder sich an einer kleinen Bar von einem Mitglied des fördernden Kulturvereins mit Räucherlachs und Croque Monsieur verköstigen und ausserdem distinguiert im bevorstehenden Programm unterweisen liess.
Dann bat man ihn und alle anderen in eine zum Konzertraum ausgebaute Diele, wo inmitten der noch verwaisten Orchesterbestuhlung ein einstimmendes Referat gehalten wurde, das sich furchtlos der Frage widmete, ob falsch tönende Akkorde einem Mangel an kompositorischer Sorgfalt oder gerade bewusster Bestrebung des Komponisten zuzuschlagen seien. Wer der Feinheiten einer Körpersprache kundig, vermochte an den Gänsefüsschen zu erahnen, die der Referent bei den Adjektiven „falsch“ und „falsch tönend“ jedesmal in die Luft schlug, für welche Antwort er hundert Jahre nach Schönbergs „Pierrot lunaire“ Zustimmung erwedeln wollte. Ganz besonders hob er eine Komposition hervor, die dritte von vieren in der kleinen Reihe des Abends, welche der Kreuzigungsszene eines berühmten Gemäldes nachempfunden war. Er vergass nicht zu erwähnen, dass sie als einziges Werk bereits an etlichen grossen Orten aufgeführt worden war. Mithilfe eines Diaprojektors gleich neben dem Dirigentenpult und einer spektakulären Leinwand, die beflissene Geister eilends wie einen schrägen Himmel über den hinteren Teil der Bühne spannten, konnte dem staunenden Publikum das Martyrium Christi vor Augen geführt werden. Die eindrucksvolle Dornenkrone und die leidenden Gesichtszüge des Gekreuzigten blieben als erschütterndes Mahnmal auch während des Konzertes über das Dielengewölbe gebreitet, von zwei eigens darauf gerichteten Scheinwerfern beleuchtet und dem leisen Rasseln des Projektors begleitet, was man aber nur in den Pausen zwischen den Stücken hören konnte, wenn sich die Musiker nach dem Abklingen des Beifalls wieder sammelten.
Mit der Nennung aller anderen Kompositionstitel beschloss der Referent nun recht bündig seinen Vortrag, den ihm das Publikum mit warmem Applaus verdankte.
Wenn auch in grosszügiger Auslegung des statuierten Vereinszwecks, vorzugsweise junge Komponisten zu fördern, die aufgeführten Meister allesamt ein stattliches Alter hatten, so sie denn noch lebten, die nun hinzutretenden Musiker sahen ersichtlich jung und blühend aus und wurden in der Art eines vorweggenommenen Schlussapplauses ausgiebig beklatscht, bevor sie sich auf das Zeichen des Dirigenten hinsetzen durften, der niemand anders als der Referent persönlich war.
Dann wurde es still im Zuschauerraum, mucksmäuschenstill. Kein leises Rascheln, nicht das schwächlichste Hüsteln war zu vernehmen. Der alte Freund, der noch den Vortrag mit gedämpften Kommentaren in sein Ohr untermalt hatte, sass gebannt und kerzengerade auf dem Stuhle wie ein Kind vor dem Tannenbaum. Im kleinen Orchester wurden ein letztes Mal die Instrumente gerichtet und nachdem dies getan noch ein einzelnes Notenpult unter dem stoischen Blick des Dirigenten erst um ein weniges nach links, dann zögernd wieder ein wenig nach rechts verschoben. Nach nochmaligem zentimetergenauem Verschieben stand es wie am Anfang. Nun kehrte die sprichwörtliche Ruhe ein, in der man eine Stecknadel hätte fallen hören, wäre nicht der Diaprojektor gewesen, der jetzt auf seinem Rollgestell wie ein grantiger Lakai neben dem Dirigenten zu grummeln und zu brummeln anfing.
Das erste Stück, mit Streichern, Flöten und Oboen, gefiel ihm ausnehmend gut und versetzte ihn in ein Gespinst konzentrierter Gedanken und schwärmerischer Vorstellungen, aus denen ihn jäh der Applaus riss, der so unmittelbar mit dem Ende der Musik einsetzte, als hätte er auf der Lauer gelegen, die Musiker zu erschrecken. Bis er sich besonnen und recht ins Mitklatschen gefunden hatte, brach der Applaus unvermittelt wieder ab, so dass er als Einziger zwei- oder dreimal noch ins Leere klatschte, dann aber, als er sich seiner Lage bewusst geworden, ebenso brüsk innehielt wie das übrige Publikum.
Ins zweite Stück vermochte er sich dagegen nicht recht zu schicken. Soweit er im Programmheft gelesen hatte, bestand es massgeblich aus Obertönen, die der Komponist aus kluger Kombination der Streichakkorde gewonnen hatte. Es spielte dieselbe Besetzung wie zuvor, ergänzt mit einer Harfinistin, und er fand, dass immerhin die Musiker ihre Sache sehr gut machten, so dass er guten Gewissens und ohne Fehltritt ins Applaudieren einstimmte.
Das Bravourstück des Abends, die Vertonung der Kreuzigungsszene, enttäuschte ihn ganz und gar. Zu wohlfeil dünkten ihn die musikalischen Effekte, zu demonstrativ die expressionistischen Akzente gesetzt, zu plakativ das ganze Werk in seiner theatralischen Schrecklichkeit. Der Flügel und die Perkussion waren als Instrumente hinzugekommen, doch sie wollten nicht miteinander harmonieren. Der Pianist, der kaum auf den Tasten zu spielen, sondern stur an den immer gleichen Saiten des Flügels zu rupfen hatte, konnte sich gegen das fast durchgängige Fortissimo der Streicher und Oboen und vor allem des Perkussionisten ebensowenig durchsetzen wie die tapfere Harfinistin, die bloss leise und zarte Töne spielen durfte. Die Flötisten waren überhaupt nur an ihren allerhöchsten Tönen als Mitwirkende herauszuhören, alle übrigen gingen gleichsam wie stumme Schreie in einem Gemetzel voll Blut und Wunden unter. Mochte diese Unausgewogenheit einer bewussten Bestrebung des Komponisten oder einem Mangel an dirigentischer Sorgfalt zuzuschlagen sein, dem Publikum gefiel sie. Kaum war das Stück zu Ende, donnerte ein frenetischer Applaus hernieder, der es mit dem Lärm des eben Gehörten aufnehmen konnte. Von überall ertönten Bravorufe, einige Zuhörer erhoben sich begeistert von den Sitzen, und selbst der Erlöser am Dielengewölbe schien ob des unerwarteten Beifalls unter seiner Dornenkrone aufzuhorchen.
Nur er hatte nicht lange geklatscht. Sein Freund, der ganz im Gegenteil aus voller Seele applaudierte, hatte einmal zu ihm hingeschaut, für eine kurze Pause seine rheumatisierten Hände schonend und wie in Sorge, ob ihm etwa schlecht geworden. Auf den Gegenblick hatte er sich aber gleich abgewandt, ohne eine Frage zu stellen, und das Klatschen wieder aufgenommen. Als der Applaus endlich doch zu Ende war, begann das Ensemble in gleichbleibender Besetzung mit dem letzten Stück. Es schien, als wäre es mit dem grossartigen Erfolg zu einer ganz anderen Einheit zusammengewachsen. Der Dirigent, der immer etwas streng und unzugänglich gewirkt hatte, lächelte nun des öftern beim Zeichengeben. Der Pianist, der eben noch einigermassen geistesabwesend dem Flügel ins Maul gegriffen hatte, schien sichtlich zufrieden über die Läufe, die er nun spielen konnte. Die Harfinsitin blühte auf mit ihren Klängen. Die Flötisten traten in schönster Weise hervor. Der Schlagzeuger stützte das Ensemble nun ohne jeden Eigennutz, und es stellte sich zwischen allen Musikern ein familiäres Klima her, in dem jeder des andern Talente aufmerksam und wohlwollend verfolgte, wenn sich Gelegenheit dazu fand. Jedes Instrument stand mit dem andern auf freundschaftlichstem Fusse.
Das Publikum aber, das sich so stark ausgegeben hatte, begann nun, mit allerlei Herumrucken und Umherschauen sich vom musikalischen Geschehen abzulenken, sei es, dass ihm die Sache zuwenig auf einen markanten Höhepunkt zusteuerte, sei es, dass sich das sensible Werk mit zunehmender Dauer wie im Ungefähren einer ihm unbekannten Mystik verlor. Der Applaus blieb recht schmal, schwoll aber doch noch einmal an, als die schon abgegangenen Musiker knapp vor seinem Versickern noch einmal auf die Bühne eilten und sich schicklich, aber ohne eigentliche Anordnung verbeugten.
Er war froh, dass sein Freund keine Konversation mehr mit den andern Zuhörern betreiben mochte, sondern aus Altersgründen unverzüglich nach Hause strebte. So blieb ihm auch die Pein erspart, die ins Foyer und an den Ausgang abbestellten Musiker etwa verlegene Auskunft geben zu hören. Er grüsste sie aber herzlich aus der Distanz und in applaudierender Manier, und sein angejahrter Kumpan tat mit ein paar Dankesworten desgleichen.
Auf dem Heimweg, hügelan eines von Kastanienbäumen und schönen Gärten umsäumten Quartiers, kamen sie in der Auffassung der genossenen Darbietungen überkreuz. Der Alte wollte haben, dass sich über den Geschmack nicht streiten lasse, er aber verwarf eine Geschmacksfrage in solchen Dingen. Der Applaus richte schliesslich über ein Stück, erwiderte sein Freund, doch er hielt dagegen, dass sich ein Applaus aus Umständen ergebe, die nichts mit der eigentlichen Sache zu tun hätten. Alle Publikumskunst und –gunst habe einen doppelten Boden.
Als sie dann aber vor dem Haus des Alten standen, trat am bedeckten Nachthimmel unversehens ein leuchtender Mond zwischen den Wolken hervor und zersprengte den aufgebauschten Haufen zu losen Fetzen fliehenden Gesindels. Da mussten sie lachen wie über eine Narretei und reichten sich versöhnlich die Hände. Der Alte betrat sein Haus, und er wandte sich wieder der Strasse und seinem Heimweg zu.
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