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AutorenbildCaspar Reimer

Das Haus und die Katze

Aktualisiert: 18. Juni 2021

Neulich spazierte ich wieder an dem Ort vorbei, der mehr als ein ganzes Jahrzehnt mein Zuhause war. Schon dutzendmal hatte ich es getan, seit mein Freund, mit dem ich dieses Haus bewohnt hatte, verstorben und ich danach Hals über Kopf ausgezogen war. Doch dieser Spaziergang sollte anders werden. Noch bevor ich in die ruhige Wohnstrasse, die Kirche und Dorffriedhof miteinander verbindet, einbog, dämmerte es mir, streifte mich die Vorahnung wie ein kühler Schauder: Unangenehmes könnte bevorstehen. Dieses Gespür kristallisierte sich heraus, machte sich in sanften, aber doch deutlich spürbaren Impulsen bemerkbar, die in meinem Hirn aufflackerten, wie einzelne Funken eines nachlassenden Feuerwerks, und sie wiesen mich an, doch einen anderen Weg einzuschlagen, mir Pein und Qual, die ich mir so und im Grunde wissentlich zufügen würde, zu ersparen. Doch je lauter die Zweifel wurden, desto sturer, ja fast stumpfsinnig wurde mein Schritt – ein, zwei, drei, Marsch, eins, zwei, drei, Marsch – und mein militärischer Selbstdrill wurde angestachelt von dem Gedanken, Schmerz gehöre zum Leben, ihm jetzt auszuweichen komme einem Verrat an der Vergangenheit gleich. Es war nämlich so, dass das Haus, in dem mein ganzer letzter Lebensabschnitt als guter Geist umherschwirrte, ein nostalgisches Wesen also, das die Erinnerungen wie ein wertvoller Goldschatz in einer Truhe behütete und bewahrte, dass dieses Zuhause in der Woche zuvor dem Verkauf und damit dem Abriss erlegen war – neue Mehrfamilienhäuser sollten auf diesem Grundstück entstehen.


Mein zielgerichteter Schritt hatte mich vorwärts gebracht – nun war es fast soweit: Die Häuser der Nachbarschaft hatten mich bereits in ihr Revier aufgenommen, so wie sie dies in den Jahren zuvor tausendmal taten. Von da an gab es kein zurück. Ich ging weiter, rasch, doch so beiläufig, ja gewöhnlich wie möglich. Und noch bevor ich die Überreste der Ruine, die nicht mal mehr eine solche war, sondern schlicht nur ein Berg von Steinen und Geröll, noch bevor ich das Ausmass der Zerstörung erfasst hatte, traf mich der Schock wie ein Blitz vom Himmel. Ein Anflug von Panik und Verzweiflung wallte in mir auf, der gleich einer höllischen Wut wich, die jenen galt, die den guten Geist, der das Haus noch bewohnte, getötet, ja ermordet hatten. Mir wurde gewahr, dass es womöglich doch ein Fehler war, hierher zukommen. Aber nun war ich da und vom Kitzel, das Ausmass einer Zerstörung zu sehen, war auch ich nicht gefeit.


Das Grundstück, das wir bewohnt hatten, war gross. Nun blickte ich also auf dieses trostlose riesige Trümmerfeld, dessen Bestandteile jedes Zaubers beraubt meinem früheren Leben entstammten, und ich starrte auf den Ort, wo sie nun seelenlos darniederlagen. Und der Geist, der meine Erinnerung behütet hatte, er war vertrieben, plattgemacht, in die Unendlichkeit der Bedeutungslosigkeit weggepustet worden. Das Haus habe eine Seele, sagte ein Bekannter neulich zu mir. Nun, mein Lieber, auch sie ist, wie der Freund schon ein Jahr zuvor, über den Jordan gegangen. Eine Fassungslosigkeit überkam mich bis in die letzten Winkel des Wahrnehmbaren, einerseits über die Brutalität der Welt, die so etwas zuliess, andererseits über die Heftigkeit meiner Reaktion, diese verzweifelte Härte, mit der ich nicht gerechnet hätte. In bitterer Wehmut versteinert wandte ich mich langsam ab. Ich hatte gesehen, was ich sehen wollte.


Den Tag und die Welt verbannt, die Stille, wie sie früher an diesem Ort idyllisch war, glich jetzt einer bedrückenden Taubheit, stumpf und platt. Im abscheulichen Korsett des beginnenden Selbstmitleids eingepfercht, machte ich mich langsam auf den Rückweg. Da hörte ich plötzlich ein Scheppern aus den Trümmern der Baustelle. Ich drehte mich um, suchte den seelenlosen Platz nach Lebendigem ab und, im dunklen Streifen unterhalb eines Baggers, bewegte sich eine Gestalt. Zwei grosse gelbleuchtende Augen, die Geheimnisvolles verhiessen, bewegten sich unter der Maschine langsam vorwärts ans Tageslicht. Ein geschmeidiges Tier musste es sein, das sich da zögerlich, den Weg sorgsam prüfend, auf mich zubewegte. Und noch bevor ich das Wesen richtig erkennen konnte, traf mich der Schlag einer Erkenntnis, denn es waren die Augen der schwarzen Katze, die all die Jahre unser täglicher und treuer Gast gewesen war. Leben kehrte in mich zurück, als die Katze das Tageslicht erreicht hatte und so, vierbeinig wie sie war und wie ich sie über all die Jahre in Erinnerung hatte, vor mit stand. Sie sah mich mit ihren prüfenden Augen an, so, wie sie es in den Jahren, als dies mein Zuhause war, immer getan hatte. Und ich traute meinen Augen nicht, als sie sich zuerst zurückhaltend, dann aber immer erwartungsvoller, auf mich zu bewegte. Die schwarze Katze, sie hatte mich, den Überlebenden, erkannt. Und weil geteiltes Leid halbes Leid ist, legte sie sich vor mir auf den Boden und liess sich streicheln.

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