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Das Begräbnis


Das Begräbnis

 

Ein mittelländisches Kaff wie in den Dreissigerjahren. Satte Wiesen und bäurische Bräuche. Das Wetter ist schwül. Es ziehen schwere, sonnendurchstochene Wolken herauf, eine drückende Migräne. Auf den ebenen Strassen und Strässchen zeigt sich kein Mensch. Nur ein alter Mann werkelt vor einem Schuppen und hält inne, als er uns vorbeifahren sieht. Klobig und hölzern steht Haus an Haus beieinander. Hinter Felläden und dicken Vorhängen vermutet man muffige Stuben und genügsame Ehen. Im Schaufenster der Drogerie hängt ein verschossenes Plakat. Eine junge Frau in altmodischer Frisur wirbt für Kernseife. Die Autospenglerei ist ausser Betrieb. Ein Tabakladen will noch Stumpen haben, die es längst nicht mehr gibt. Nichts hier ist übertan, nichts übertüncht. Es steckt etwas Altvertrautes im Ort, das einen fliehen heisst, so man leben will.

Vor dem Sternen die Abzweigung. Etwa hundert Meter bis zur Holzbrücke, dann das Fussballfeld, die Kirche links, der Friedhof rechterhand. Wie auf dem Zettel notiert. Man findet sich zurecht in einem alten Dorf. Erstaunlich gross dieser Friedhof, die Gräber reihum verstreut. Nichts von Bodenspekulation weit und breit. Abseits neben einem Kartoffelacker stehen ein paar Wagen. Der Dorfpolizist zirkuliert und regelt den kleinen Verkehr, der hier zusammenkommt. Es wird noch anderweitig begraben.

Man müsste einen Umweg fahren bis zum Acker. Doch die Zeit drängt, zuhause ein wichtiger Anruf im letzten Moment. Die Autobahn ziemlich verstopft, überholen unmöglich. Die werden ihn noch ohne uns unter die Erde bringen. Wir lassen den Wagen einfach bei der Friedhofsmauer stehen. Erst beim Aussteigen sehe ich, dass ich ihn halbseitig in einen Graben gefahren habe. Der Polizist merkt auf und schaut herüber. Ich zeige demonstrativ auf meine imaginäre Armbanduhr und fuchtle mit den Händen in Richtung der Gräber. Er nickt und hat nichts dagegen. Die frische Luft scheint ihm gut zu tun.

 

Vor dem Grab begegnet man sich. Wir sind unser ein gutes Dutzend. Bei den andern sind‘s mehr, tuschelt’s hinter einer vorgehaltenen Hand. Immerhin soviel, erwidert eine andere Stimme. Lauter Gestalten aus Kindertagen, von diesem Anlass aus der versunkenen Zeit heraufbeschworen. Ich staune, wie wenig sie sich verändert haben, obschon sie sehr alt und gebrechlich geworden sind. Ich kenne sie alle noch, wenn auch nicht jeden mehr mit Namen. Bei zweien aber zögere ich und stelle mich vor. Es sind Kusinen des Verstorbenen, von denen ich garnicht wusste. Man ist gegenseitig erfreut. Jetzt komme einmal einer von unserer Seite ins Familiengrab, sagen sie. Auch davon habe ich nichts gewusst.

Wacklig und zittrig, ist seine älteste Schwester aus England herangereist, von ihrem Enkel begleitet. Wir haben zusammen Fussball gespielt, weisst du noch? Und deine Geschwister? Haben schon Familien! Ich begrüsse die nächste Schwester des Toten. Sie muss von zwei Pflegerinnen gestützt werden. Die wird sich nie freiwillig in den Rollstuhl setzen, denke ich. Hart gegen sich selbst wie ihre ganze bodenständige Sippe, der Verstorbene eingeschlossen. Seine jüngste Schwester watschelt breitbeinig und krummgebeugt heran, einer neugierigen Ente ähnlich. Bist du nicht..? Freilich, ich bin’s, wie geht’s dir? Wo ist dein Mann? Vor zehn Jahren gestorben, muss ich leider erfahren. Im Verlaufe des Tages werde ich seinen Wintermantel erben.

Einer der Brüder verdrückt eine Träne. Der andere lacht, ein rüstiges achtzigjähriges Lachen. „Was will er mehr? Hat ja gut gelebt und ist alt geworden. Hehehe!“ Der gut gelebt haben soll, ist ein Häufchen Asche, Staub, wie der Pfarrer sagen wird, der noch auf sich warten lässt. Ein Staub namens Hans. Einer steht abseits von uns, die wir uns um einen Baum gruppieren. Mitten auf der Grabstelle. Es ist Hansens Schwager, der Mann jener Schwester, die gestützt werden muss. Ich begrüsse ihn als Letzten. Wer man sei, fragt er. Er kenne hier niemanden. Man sei der Enkel. Enkel? Nun, Hansens Enkel eben. Hans? Ja, vom Hans, eben dem, der gestorben sei. Ohje, das tue ihm aber leid.

 

Es ist ein Wiedersehen nach Jahrzehnten. Nur zwei- oder dreien ist man zwischendurch begegnet, vorallem in letzter Zeit, als es mit Hans bergab ging. Man fühlt sich sehr jung in der Greisenschar, fast sprudelnd. Es wird nicht mehr viele Gelegenheiten geben, der Jüngste zu sein. Ob Hans etwas hinterlassen habe, fragt die Engländerin. Ich verneine, meines Wissens nicht. Er hatte nur seine monatliche Rente. „Der hat doch nur Schulden gemacht in seinem Leben“, ertönt’s hinter meinem Rücken. „Hehehe!“ Die Begräbniskosten seien gedeckt, lässt sich schniefend der andere Bruder vernehmen.

Man erzählt sich, wie er gestorben sei. Als hätte er den Pflegern ein Schnippchen geschlagen. Die haben ihn frühmorgens geweckt, emporgehievt, gewiss unter grosser Anstrengung gewaschen und gewickelt und schliesslich den Widerstrebenden, der Rollstühle hasste, eben doch in den Rollstuhl gesetzt, um ihn mit dem Frühstück zu verköstigen. Als man vor dem Mittagessen noch einmal zum Rechten habe schauen wollen, sei er schon tot gewesen. Er habe wohl nichts mehr zu lachen gehabt auf seine alten Tage, jammert eine. Es sei ein hartes Los, in einem Pflegeheim zu landen. Bestätigend murmelt die Runde. Ich schweige. Ich habe ihn immer auch lachen gesehen bei meinen Besuchen. Stets sein trockenes, von einem kräftigen Nicken begleitetes Lachen. Und solange ihn seine Beine irgend trugen, hat er auch noch getanzt. Bis ganz zum Schluss hat er gerne gesungen, man hat dort viel mit den Betagten gesungen. Obwohl er fast taub war. Schön und immer noch getragen von seinem hohen Bariton. Aber sie haben natürlich trotzdem recht.

Dann kommt endlich der Pfarrer. Wir büscheln uns ums Grab. Die Trauerrede beginnt. Hansens Leben passiert Revue. Die Umstände seiner Geburt, die alten Zeiten. Der Militärdienst und der geliebte Beruf. Das Schöne und das weniger Schöne. Man wird ihn nicht vergessen. Zwei Schwestern halten ein Taschentuch vors Gesicht, die dritte starrt vor sich hin, schwer auf die Pflegerinnen gestützt. Man hört den einen Bruder schluchzen, den andern leise scharren im Kies. Ich halte meine Mutter fest am Arm. Der Pfarrer spricht nun vom Mute zur Hoffnung. Von der Gewissheit der Auferstehung Christi. Was hätte Grossvater dazu gesagt? Der ist zeitlebens nicht in eine Kirche gegangen. Ich habe nie mit ihm über diese Dinge gesprochen.

 

Später der Leichenschmaus im Sternen. Der, welcher keinen mehr kennt, steht plötzlich auf, zieht seine Jacke an, nimmt Reissaus. Man ruft ihn vergeblich zurück. Er müsse unbedingt nach Zürich. Und schon ist er zum Saal hinaus. Ohne Geld, ohne Billet. Und ohne Orientierung. Ich renne ihm nach. Dass er eine Panik kriegt, wenn man ihm den Willen nicht lässt, habe ich inzwischen erfahren. Ich erreiche ihn schon ein gutes Stück vom Gasthof entfernt, kurz vor der Brücke. Er ist verdammt schnell für seine neunzig Jahre. Fred, wo willst du hin? Er will keine Zeit für mich haben, müsse dringend nach Zürich. „Das trifft sich gut“, sage ich, „ich nämlich auch.“ Es freut ihn zum Glück. Und so marschieren wir, alt und jung, eine schöne Weile nebeneinander.

Schau mal, der Bach. Was für ein Hochwasser!

Ja, der Bach.

Weisst du, es hat viel geregnet im Frühling.

Viel geregnet, ja ja.

Schau mal den Himmel. Gut, hat sich das Gewitter verzogen.

Ja, das ist gut. Ich muss nach Zürich.

Wir marschieren unentwegt.

Du, Fred, deine Frau, die Margrit, die kommt doch wohl auch mit nach Zürich?

Jetzt bleibt er endlich stehen. Die Margrit?

Ja, die Margrit. Du willst doch nicht etwa ohne deine Frau nach Zürich gehen, du alter Schelm! Ich drohe zum Spass mit dem Finger.

Nun lächelt er verschmitzt: Die Margrit, oh ja.

Aber weisst du, sie wartet doch in der Beiz auf uns. Im Sternen, hat sie gesagt. Komm, gehn wir sie holen, deine Frau!

Wir machen kehrt.

Schau mal, der Bach. Ein prächtiges Hochwasser!

Ja, der Bach.

Weisst du noch, wie es den ganzen Frühling über geregnet hat?

Viel geregnet, ja ja.

Jetzt sind wir gleich bei Margrit. Schau, dort ist schon die Beiz. Dann gehen wir alle drei nach Zürich.

Jaja, nach Zürich, ich muss nach Zürich!

Wir alle drei - das wird lustig!

Wir alle drei!

Vor dem Sternen winkt er zwei Autos vorbei, die seinetwegen anhalten. Wie ein Polizist. Ich nehme ihn unter den Arm. Er sei noch nie im Sternen gewesen. Weisst du, die Margrit wartet auf uns.

Ah, die Margrit!

Schau, wir nehmen noch schnell einen Kaffee, die Reise nach Zürich ist lang.

Frohgemut betreten wir den Saal. Alle sind erleichtert. Ich führe ihn an seinen alten Platz. Er zieht die Jacke wieder aus und setzt sich seelenruhig hin. Margrit und Zürich scheinen vergessen. Fortan wird er Ruhe geben.

 

Eine Armbanduhr! wer will sie haben, Hansens Armbanduhr? Seiner Tochter stünde sie zu. Die will sie aber nicht und reicht sie meinem Bruder. Nun hat er auch eine. Fotos machen die Runde. Sie wechseln zum Teil in den Kusinenclan. Eine schöne Erinnerung. Weiter gibt es keine Habseligkeiten mehr. Hansens Bilder, seine alte Pendule, die Schallplatten, die schönen Kristalle von seinen Bergtouren, alles schon bei der Wohnungsräumung verteilt oder weggekarrt. Schade um die Bilder, sagen die Kusinen. Keiner von uns hat ihren Wert geschätzt.

Dann kommt der Wirt mit der Rechnung. Man könne sie dem Beistand schicken, der habe gesagt, er zahle sie von der letzten Rente. Hehehe! Der andere Bruder zahlt sie dennoch hinter unserem Rücken aus eigener Tasche. Nur ich habe es gesehen.

Dann steht man vor dem Sternen und verabschiedet sich voneinander, wünscht sich gegenseitig alles Gute. Gelegentlich wird man sich wiedersehen, aus traurigem Anlass wiedersehen müssen. Die Kusinen nehmen den Zug. Sie wollen nicht mitgenommen werden. Sie haken einander ein und spazieren zum Bahnhof. Die andern machen sich auf zum Kartoffelacker, wo ihre Autos stehn.

Unser Wagen neigt sich gegen die Friedhofsmauer. Wir steigen ein und fahren los. Ich hupe noch einmal zum Grusse zurück. Aber die andern können mich nicht mehr hören.

 

Sie sind schon losgefahren und bald im Strassenstaub verschwunden.

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