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Aus der Arbeitswelt

Aktualisiert: 17. Juni 2021

Mein Chef mag es nicht, wenn im Büro gesprochen wird. Er hat das zwar nie gesagt, trotzdem wissen es alle, schweigen alle. Dabei spielt es keine Rolle, ob man arbeitet oder nicht. Wichtig ist nur, dass man schweigt. Und ja – ein bisschen so tun als ob schadet sicher nicht. Ich bin jeden Tag nur vier Stunden dort, aber auch diese Zeit ist lang, um nur so zu tun als ob. Und die Arbeit, die es dann doch zu erledigen gäbe, nämlich das Aktualisieren der Kundenliste, die füllt bei aller Langsamkeit keine vier Stunden aus. Deshalb nehme ich jetzt immer mein Spieglein, meine Kosmetikschere und eine Pinzette von zuhause mit, zupfe mir die Nasenhaare aus oder schneide die Augenbrauen zurecht.


Mein Tisch ist abgeschirmt von den Kollegen, aber die Geräusche, die ich dort jeden Morgen höre – sie sind ganz nah und verschmelzen sinnbildlich und vom Gefühl her mit diesem Ort. Da ist ein blasser, etwas dicklicher Kollege mit osteuropäischem Akzent. Er zeichnet für die Produktion in der Fabrik Baupläne auf dem Computer. Seit Wochen niest und hustet er fast ununterbrochen. Es ist lästig. An seiner Stelle wäre ich längst zuhause geblieben, hätte mich auskuriert. Oder wenn ich hier der Chef wäre, ich hätte ihn mit dem gut gemeinten Rat fortgeschickt, sich zu erholen. Komm wieder, wenn du gesund bist! Aber eben – im Büro des grossen Schweigens ist alles anders. Vielleicht ist er auch im Stundenlohn angestellt und kann es sich nicht leisten, auszufallen. So hustet der Arme elend vor sich hin und das fünf Tage die Woche von morgens in der Früh bis Feierabend – er ist immer hier. Nimmt er Aufträge aus der Fabrik oder des Chefs entgegen – übrigens fast die einzigen Momente, während denen ein Wort gesprochen wird – atmet er schwer, gibt Laute von sich, die dem Schnauben eines Pferdes ähnlich sind. «Ist gut. Jaja… Mach ich. Bis wann? Ist gut. Jaja.» Seine Stimme klingt freundlich, aber ihr Ton ist immer matt, müde, auch etwas gereizt, als ob er einen Kater hätte. In seinem Bürobereich arbeiten abwechselnd noch zwei andere Kollegen. Der eine, ein junger aufgeweckter Sportstudent aus Deutschland, hat neulich hier angefangen. In der ersten Woche hat er noch das Gespräch gesucht – wie man das so macht, die Kollegen kennenlernen, gute Atmosphäre schaffen. Mittlerweile ist auch er verstummt, starrt stur auf den Bildschirm des Computers. Ich glaube, er arbeitet dabei.

Zwei Tage die Woche teilt sich ein anderer Kollege den Arbeitsplatz mit mir – Spieglein, Pinzette und Kosmetikschere bleiben dann zuhause. Er ist noch etwas jünger und durchaus ehrgeizig. Während sonst niemand einen Mucks von sich gibt, wenn der osteuropäische Kollege nebenan hustet, niest und trieft, ruft er voller bürgerlicher Manier und aufmerksam: «Gesundheit!» In diesen Momenten gibt es in der Belegschaft ein ganz kurzes Aufleben, wie bei einem sterbenden Menschen, der ganz kurz und nur noch einmal zu Bewusstsein kommt: Man hört einzelne Laute, nasal, wie ein paar müde Ziegen, die dem Kollegen auch Gesundheit wünschen.


Nur selten wird das Büro von einem Wirbelsturm heimgesucht, nämlich dann, wenn der Leiter der Fabrik uns einen Besuch abstattet. Er ist das Kontrastmittel unseres Schweigens, das er verfestigt, ohne es zu merken. Er schweigt nicht – er brüllt, unabsichtlich natürlich, während er wie ein wild gewordenes und hoch gewachsenes Tier durch unsere Räume trampelt: «Guten Morgen allerseits!» Wieder grüssen die müden Ziegen einsilbig und halbherzig. Ich sage nichts. Meistens geht der Trampel zum Chef, dessen Raum durch eine matte, undurchsichtige Glastür vom Rest abgetrennt ist. Manchmal kommt er aber auch, um dem erkälteten Kollegen aus Osteuropa Anweisungen zu erteilen. Dabei hat er ein Geräusch auf Lager, das für mich ins akustische Mosaik dieses Ortes gehört: Immer, wenn er etwas gesagt hat und dabei dem Menschen, den er gerade anbrüllt, viel zu nahe kommt, wendet er in einer ausladenden Bewegung Oberkörper und Kopf schwungvoll zur Seite und zieht lustvoll seinen Rotz hoch – ein lautes und langanhaltendes Geräusch, als hätte er eine unendliche Menge an Rotz zur Verfügung und eine dazu passende unglaublich grosse Nase. Das Geräusch ist jeweils bis in den hintersten Winkel des Büros zu hören. Mein eigenes Schweigen verfestigt sich in diesen Momenten nicht nur, es wird bleiern, eisig, denn wenn ich etwas sagen würde, käme nichts Schönes dabei heraus. Ist mir Sicherheit sehr schlecht für die Nasenhöhle, denk ich mir nur.


Und dann ist da noch die rechte Hand des Chefs. Er ist abgesondert von uns in einem separaten Büro. Er ist der schweigsamste von allen und eigentlich das Aushängeschild unseres gemeinsamen Schweigens. Seine Stimme habe ich höchstens im Ansatz wahrgenommen, sie gleicht mehr einem Hauch, einem ganz leisen Schimmer einer Stimme. Und – im Gegensatz zu uns anderen – bewegt er sich geräuschlos, kaum hörbar, wie eine Katze. Aber er ist der Jugendfreund des Chefs, die beiden kennen sich schon lange. Neulich war ich gerade dabei, mit der Kosmetikschere eine kleine unschöne Ecke am oberen Rand der rechten Augenbraue zu korrigieren. Ein störrisches Härchen liess sich nicht in die Form zwängen, scherte immer wieder aus, ich musste es immer und immer wieder glatt streichen und mit der Schere nachschneiden. Das Spieglein hatte ich gegen das Fenster gelehnt, wobei ich darauf achten musste, von niemandem aus der gegenüberliegenden Fabrik beobachtet zu werden. Gerade war ich am Punkt angelangt, von dem aus es mir gelingen konnte, das Härchen ein für alle mal zu zähmen – wenn ich jetzt nur nicht gestört werde. Da hörte ich plötzlich ein leises Tapsen und es war so leise, wirklich sehr leise – zu leise, also eigentlich nur zu vernachlässigen, und deshalb wäre es keinesfalls ein Grund gewesen, meine Aktion mit der Augenbraue, die wirklich auf gutem Wege war, eigentlich fast beendet, erfolgreich beendet, jetzt abzubrechen, nur wegen eines Geräusches, das unglaublich leise war, nun, es wurde jetzt etwas lauter, aber immer noch leise genug, man musste schon genaustens hinhören, zudem hätte ich es gleich geschafft, es fehlte nicht mehr viel.

Da sagte plötzlich eine leise Stimme hinter mir: «Könntest Du bitte….»

Der Schreck fuhr mir in die Knochen, eine Fontäne pustete mich vom Sessel hoch, ich stolperte über das metallene Fusskreuz meines Bürostuhls, riss bei der Bewegung mit der Hand mein Spieglein zu Boden, die Kosmetikschere spickte unters Pult, fast hätte ich das Gleichgewicht verloren, doch ich fing mich und kam neben dem Pult zum Stillstand. Unser schweigsamer Kollege – und die rechte Hand des Chefs – blickte mich an, ein angedeutetes Lächeln auf dem Gesicht.

«Oh, jetzt hast Du mich aber erschreckt», sagte ich.

Er deutete ein Nicken an und sagte, wieder sehr leise: «Könntest Du mit bitte eine Kopie der Liste schicken?»

«Ja, natürlich, auf jeden Fall. Mache ich gleich.»

Er nickte und schlich sich davon.

Der Schreck sass mir noch in den Knochen, ich schimpfte auf mich – wie konnte ich nur so dreist sein, wegen einer Augenbraue meine Stelle riskieren. Ich nahm das Spieglein und die Kosmetikschere, verstaute sie wütend und ganz tief in meiner Tasche, atmete einmal tief durch und wandte mich wieder der Kundenliste zu.


Der peinliche Vorfall hatte keinerlei Nachspiel. Nicht mal einen Mucks davon. Am nächsten Morgen empfing mich das Büro des Schweigens wieder in seiner ganzen zur Schau gestellten Tristesse. Das Schweigen war sogar noch etwas umfassender als bisher, wie ein Nebel, der die Essenz dieser platten Sprachlosigkeit in seinen Wassertröpfchen trägt und sie nun bis in die letzten Winkel verbreitet, bis in den Spalt zwischen Kaffeemaschine und der Wand zur Bürotoilette hin, bis unter den kaputten Staubsauger, wo es sich eine grosse Spinne gemütlich gemacht hatte. Spiegel, Pinzette und Kosmetikschere hatte ich zuhause gelassen, konzentrierte mich auf die Kundenliste. Ich wollte ernsthaft versuchen, mich mit dem Büro des Schweigens zu arrangieren, mich wirklich einzufügen. Dabei musste ich aber meine Arbeitsgeschwindigkeit dermassen verlangsamen, dass mein Dasein, meine Funktion in diesem Büro als Angestellter, einem Witz glich. Ich kontrollierte eine Adresse drei- oder viermal hintereinander, überprüfte vorherige Adressen, die ich zuvor schon unzählige Male nachgeschlagen hatte, nochmals – immer in der bangen Furcht, am Ende der Liste anzukommen, das einer Kante über einem Abgrund glich. Einige Vormittage gelang es mir noch auf diese Weise, der letzten Zeile dieser Exel-Tabelle Schnippchen zu schlagen. Wo doch viele Wege nach Rom führen, so führten auch viele zum Ende meiner Tabelle, ich musste sie nur alle sorgsam und gemächlich beschreiten. Doch es kam der Punkt an einem ganz besonders bleiernen grauen Morgen mit ganz tristen und trostlosen Aussichten, an dem ich schweissgebadet mit einer zugeschnürten Kehle aus dem Schlaf erwachte, mein Herz pochte und die Gewissheit fuhr mir wie ein Stromschlag in die Knochen: Um das Unvermeidliche weiter hinauszuzögern, führte kein Weg an Pinzette, Kosmetikschere und Spielglein vorbei. Nur so konnte ich den Schein einer Beschäftigung an diesen unzähligen Vormittagen, die da noch kommen werden, aufrechterhalten. Doch, dachte ich mir plötzlich: Meine Zehennägel mussten dringend wieder einmal geschnitten werden, also packte ich auch den Nagelknipser mit ein und fuhr zur Arbeit.


Nun war es eine Kunst, meine körperpflegerischen Tätigkeiten am Arbeitsplatz mit dem Mosaik der Geräusche im Büro des Schweigens abzustimmen. Da meine Zehennägel dick und robust sind, war der klickende helle Ton des Nagelknipsers entsprechend laut und auch als eben genau diese Tätigkeit zu erkennen. Das Schneiden der Nägel musste ich also mit dem Gesundheitszustand meines Kollegen aus Osteuropa abstimmen – wenn er einmal wieder triefend, niesend und hustend bei der Arbeit erschien, dann war der Punkt gekommen, um die Nägel zu schneiden. Dabei musste ich jeweils darauf achten, dass der Moment, an welchem ich den Knipser drückte mit dem Höhepunkt seines Hustenanfalls synchron lief. Wie eine Symphonie, deren Ende sich zwar nähert, man aber nie weiss, wann der Paukenschlag den Schlusspunkt setzt. Kam der Kollege aber beschwerdefrei zur Arbeit, dann ging es mit Spieglein und Kosmetikschere der Augenbraue an den Kragen, vom äusseren Rand langsam und sorgsam hinein bis in die Struktur des einzelnen Härchens, bis in das Elementarste, wo sich alles aufzulösen scheint, dann wieder zurück, dann wieder hinein, dann wieder zurück, im Rhythmus, wie das Aufbäumen und Abebben einer Brandung. Und je länger ich auf diese Weise verfuhr, desto mehr verschmolzen die Geräusche im Büro des Schweigens mit meinen körperpflegerischen Tätigkeiten, alles wurde ein Ganzes, ein Tanz, von einem Orchester begleitet, schwungvoll, ja euphorisch. Das ging sogar soweit, dass mir Überraschungen in diesem Tanz die Hand reichten, wie von alleine sich dazu gesellten: Ich war gerade mit dem linken Fuss fertig, da kam der Chef zu mir ans Pult – ich musste für ihn eine Petition gegen Hundekot auf Wanderwegen unterschreiben. Und es war, als der Chef kam, gerade in dem Moment, an welchem beide Füsse unter dem Pult und auf dem Boden waren, auch den Knipser hatte ich in der Hand versteckt, nur das Spieglein lag verräterisch neben der Tastatur, doch das Spielte keine Rolle, ich musste einen so konzentrierten, angestrengten, arbeitssamen Eindruck machen, dass sogar für einen kurzen Moment ein freundliches Lächeln über das Gesicht des Chefs huschte und er schweigend und glückselig wieder verschwand. So ging das weiter, von den Nasenhärchen über die Augenbrauen bis zu den Zehennägeln und wieder zurück, begleitet vom wohligen Husten, Triefen und Niesen meines Kollegen. Selbst das Hochziehen des Rotzes, das der Fabrikchef ab und an zum Besten gab, fügte sich ins Mosaik meiner Vormittage ein. Ich hatte den perfekten Workflow gefunden. Die Welt lag mir zu Füssen – bis ich eines Tages keine Zehennägel, keine Augenbrauen und keine Nasenhärchen mehr hatte.


Ich hatte sämtliches Pulver verschossen, hatte mir in Ekstase alles abgeschnitten und abverlangt, mich ausgepresst wie eine Zitrone, von der am Ende nur ein hauchdünner Rest von Schale übrigblieb. Bei mir gab es nichts mehr zu holen – das Büro des Schweigens hatte meinen Körper geschunden, ihn ausgezehrt, aufgefressen, wobei ich selber Hand angelegt hatte. Und die Exel-Tabelle – auch ihre Wege waren abgetreten, ihr grelles Grün ausgebleicht wie eine Hose, die zu oft gewaschen wurde, ja, noch eine Zeile war da, bei der ich nicht sicher war, ob ich sie erst neunhundertneunundneunzig statt schon tausendmal überprüft hatte. Noch einmal konnte ich Hand anlegen, noch ein einziges Mal, dann würde mich die Liste aus dem Bildschirm heraus anspringen, mich über alle Berge davon jagen, genug hätte ich sie geschunden, jetzt sei ein für allemal Schluss, komm alleine klar! Ein paar Mausklicks und wenige Fingerübungen auf der Tastatur blieben, aber es war nichts, der Abgrund eilte mir im Tempo eines Hochgeschwindigkeitszuges, nein sogar eines Flugzeuges entgegen. Und so griff ich zum letzten Mittel, das einer Waffe glich und das ich deshalb immer gemieden hatte: Ich nahm meine Partitur zur Arbeit mit.


Bisher hatte ich die Beschäftigung im Büro des Schweigens und meine Arbeit als Dirigent immer strikte getrennt. Der Mensch, der ich im Büro des Schweigens war, der sich, um Zeit zu schinden, die Augenbrauen, Nasenhaare und Zehennägel verstümmelt hatte, dieser Mensch sollte mit dem Dirigenten, der abends bei vollem Konzertsaal ein – zumindest meiner Meinung nach – hochkarätiges Orchester dirigierte, nichts zu tun haben. Sicher, mein Gefühl für Takt und Melodie hatten mir dabei geholfen, die Geräusche im Büro des Schweigens und meine körperpflegerischen Tätigkeiten aufeinander abzustimmen, sie in Harmonie zu bringen. Aber die Partitur in diese stumpfe, platte, triste Trostlosigkeit mitzunehmen, das war etwas anderes. Ausser einem Sprung vor den Zug blieb mit jedoch nichts weiter übrig. Ich musste zur Tat schreiten und mit grossem Pathos eben das Schicksal herausfordern, denn wenn ich im Büro erstmal zu dirigieren begann, dann – was konnte da alles passieren? An diesem Morgen, welcher der letzte im Büro des Schweigens sein würde, liess ich Pinzette, Kosmetikschere, Spieglein und Nagelknipser zu Hause.


Die Partitur in meiner Umhängetasche fesselte mich bereits, als ich in den Zug einstieg, der mich zum Büro des Schweigens führen sollte. Anfangs dachte ich, ich könne mich zusammenreissen, bis ich im Büro angekommen bin, doch bereits kurz nach Abfahrt begann das Papierheft aus meiner Tasche heraus, auf mich einzuwirken, meine Arme fingen an, sich leicht zu bewegen. Es war die Siebte Sinfonie in C-Dur von Dmitri Schostakowitsch, die mich begleitete, und die Musik wurde langsam lauter und meinen Körper durchfuhren Zuckungen eines leidenschaftlichen Dirigenten. Zwischen morgenmüden Fahrgästen, die in ihr Handy starrten, begann ich mehr und mehr mich zur Musik zu bewegen, mein Orchester zu dirigieren. Die Zuckungen waren nach aussen hin nicht als Bewegung zur Musik zu erkennen, denn ein Teil von mir hoffte noch, sich im normalen Trott, in der Existenz als einfacher Angestellter halten zu können, nur bei jedem dritten Takt ging der Dirigent mit mir durch und ich begann herumzufuchteln. Einige Fahrgäste sahen von ihrem Handy hoch und wechselten erschrocken den Platz; Schüler, die unweit von mir sassen, zeigten mit dem Finger auf mich und begannen zu kichern. An einer Haltestelle stiegen Polizisten hinzu, sie durchkämmten den Zug nach Fahrgästen, die nicht auf dem Weg ins Büro des Schweigens waren. Und zu diesem Zeitpunkt wusste ich, dass ich kurz davorstand, vom rechtschaffenen Pfad abzukommen, die Musik hatte mich fast ganz auf ihre Seite gezogen und vor lauter Schreck über den nun eingeschlagenen Weg zuckte ich heftig am ganzen Körper und synchron zur inneren Musik, die sich immer mehr ins Äussere kehrte, und dabei schlug ich einer erschrockenen aber freundlichen älteren Frau die Brille beinahe von der Nase. Die Dame hatte offenbar Mitleid mit einem jungen, verwirrten Mann wie mir und machte keine Anstalten. Und als die Polizisten an mir vorbei streiften, mich mit ihren Blicken fixierten, ja da spiegelte sich noch einmal alles, drehte sich zurück und ich war wieder dabei, die Zehennägel zu schneiden, die Augenwimpern zu zupfen, die Liste zu kontrollieren, das Spieglein zu verstecken und eine Petition für den Chef zu unterschreiben. Doch die Musik wurde lauter, die Polizisten stiegen aus, der Zug fuhr weiter und an der nächsten Station würde ich im Büro des Schweigens angekommen sein.

Bevor der Zug im Büro des Schweigens zu stehen kam, fuhr er durch eine Menschenmenge und durch die Fenster funkelten feierliche Lichter. Als ich ausstieg, den ganzen Kopf voll donnerndem Krach der Sinfonie, geleitete mich die Welt nicht ins Büro, sondern frontal vor ein grosses Orchester, das ich zu dirigieren hatte, hinter mir ein gefüllter Konzertsaal, Puppen hingen von der barocken Decke herab, es war mein Chef, der Kollege aus Osteuropa und die anderen aus dem Büro, sogar der ganz Schweigsame machte plötzlich seinen Mund auf. Sie klatschten mir zu und lachten lustig im Sound der Melodie. Auf den Notenständern der Musiker waren Exel-Tabellen zu sehen, und mit den letzten paar Takten war die Liste ausgefüllt, die Tabellen verschwanden und an ihre Stelle traten die Noten der Musikanten. Je näher die Sinfonie ihrem Ende kam, desto mehr verblasste alles, was jemals mit dem Büro des Schweigens zu tun hatte, auch meine Umhängetasche, in der übrigens seit Monaten mein Arbeitsvertrag vor sich hingammelte, war verschwunden und ich – plötzlich ganz Dirigent – setzte zu den letzten Takten eines gelungenen Konzertabends an. Grosser Applaus, standing ovations. Vergessen war das Schweigen. Und mein altes Leben.

Wie immer nach einem guten Konzertabend trank ich zusammen mit meiner Lieblingsflötistin noch ein Glas Wein an der Bar des Konzerthauses. Dann machte ich mich auf den Weg nach Hause. Die letzte U-Bahn zur Bernauerstrasse, wo meine Wohnung lag, war schon weggefahren. So winkte ich ein Taxi herbei. Der Fahrer, ein etwas dicklich wirkender Mann mit osteuropäischem Akzent, war erkältet und nieste und hustete auf der ganzen Fahrt. Irgendwie kam er mir bekannt vor. Aber ich war zu müde, um ihn darauf anzusprechen. Die Musik der Sinfonie hallte in mir nach. Bis ich zuhause in einen tiefen Schlaf fiel.


ENDE

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