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Aus der Arbeitswelt

Mein Chef mag es nicht, wenn im Büro gesprochen wird. Er hat das zwar nie gesagt, trotzdem wissen es alle, schweigen alle. Dabei spielt es keine Rolle, ob man arbeitet oder nicht. Wichtig ist nur, dass man schweigt. Und ja – ein bisschen so tun als ob schadet sicher nicht. Ich bin jeden Tag nur vier Stunden dort, aber auch diese Zeit ist lang, um nur so zu tun als ob. Und die Arbeit, die es dann doch zu erledigen gäbe, nämlich das Aktualisieren der Kundenliste, die füllt bei aller Langsamkeit keine vier Stunden aus. Deshalb nehme ich jetzt immer Spieglein, Kosmetikschere und eine Pinzette von zuhause mit, zupfe mir die Nasenhaare aus oder schneide die Augenbrauen zurecht.

 

Mein Tisch ist abgeschirmt von den Kollegen, aber die Geräusche, die ich dort jeden Morgen höre – sie sind ganz nah, verschmelzen sinnbildlich und vom Gefühl her mit diesem Ort. Da ist ein blasser, etwas dicklicher Kollege mit osteuropäischem Akzent. Er zeichnet für die Produktion in der Fabrik Baupläne auf dem Computer. Seit Wochen niest und hustet er fast ununterbrochen. Nimmt er Aufträge aus der Fabrik entgegen, lichtet sich das Schweigen in den Räumen für wenige Momente. Dabei gibt er Laute von sich, die dem Schnauben eines Pferdes ähnlich sind. Seine Stimme klingt freundlich, aber ihr Ton ist immer matt, müde, auch etwas gereizt, als ob er einen Kater hätte. In seinem Bürobereich arbeitet neuerdings noch ein anderer Kollege, ein junger aufgeweckter Sportstudent aus Deutschland. In der ersten Woche hat er noch das Gespräch gesucht – wie man das so macht: die Kollegen kennenlernen, gute Atmosphäre schaffen. Mittlerweile ist auch er verstummt, starrt stur auf den Bildschirm des Computers. Ich glaube, er arbeitet dabei.

 

Zweimal die Woche teilt sich ein weiterer Angestellter den Arbeitsplatz mit mir – Spieglein, Pinzette und Kosmetikschere bleiben dann zuhause. Er ist noch etwas jünger und durchaus ehrgeizig. Hustet, niest und trieft der Kollege aus Osteuropa, bekümmert dies niemanden, nur er ruft voller bürgerlicher Manier und aufmerksam: «Gesundheit!» In diesen Momenten gibt es in der Belegschaft ein ganz kurzes Aufleben. Man hört einzelne Laute, wie ein paar müde Ziegen, die dem Kollegen auch Gesundheit wünschen.


Nur selten wird das Büro von einem Sturm heimgesucht, nämlich dann, wenn der Leiter der Fabrik uns einen Besuch abstattet. Er ist das Kontrastmittel unseres Schweigens. Er schweigt nicht – er brüllt, während er wie ein wild gewordenes und hoch gewachsenes Tier durch unsere Räume trampelt: «Guten Morgen allerseits!» Wieder grüssen die müden Ziegen einsilbig und halbherzig. Ich sage nichts. Meistens geht der Trampel zum Chef, dessen Raum durch eine matte, undurchsichtige Glastür vom Rest abgetrennt ist. Manchmal kommt er aber auch, um dem erkälteten Kollegen aus Osteuropa Anweisungen zu erteilen. Dabei hat er ein Geräusch auf Lager, das für mich ins akustische Mosaik dieses Ortes gehört: Immer, wenn er etwas gesagt hat und dabei dem Menschen, den er gerade anbrüllt, viel zu nahekommt, wendet er in einer ausladenden Bewegung Oberkörper und Kopf schwungvoll zur Seite und zieht seinen Rotz hoch – ein lautes und langanhaltendes Geräusch, jeweils bis in den hintersten Winkel des Büros zu hören. Mein eigenes Schweigen verfestigt sich in diesen Momenten nicht nur, es wird bleiern, eisig, denn wenn ich etwas sagen würde, käme nichts Schönes dabei heraus.


Und dann ist da noch die rechte Hand des Chefs. Abgesondert von uns in einem separaten Büro. Er ist der Schweigsamste von allen. Seine Stimme habe ich höchstens im Ansatz wahrgenommen, sie gleicht mehr einem Hauch, einem ganz leisen Schimmer von Stimme. Und er bewegt sich geräuschlos, kaum hörbar, wie eine Katze. Neulich war ich gerade dabei, mit der Kosmetikschere eine kleine unschöne Ecke am oberen Rand der rechten Augenbraue zu korrigieren. Ein störrisches Härchen liess sich nicht in die Form zwängen, scherte immer wieder aus, ich musste es immer und immer wieder glattstreichen, mit der Schere nachschneiden. Das Spieglein hatte ich gegen das Fenster gelehnt, wobei ich darauf achten musste, von niemandem aus der gegenüberliegenden Fabrik beobachtet zu werden. Gerade war mit höchst konzentrierter Spannkraft am Punkt angelangt, von dem aus es mir gelingen konnte, das Härchen ein für alle Mal zu zähmen. Da hörte ich ein leises Tapsen und es war so leise, eigentlich zu vernachlässigen, dass es keinesfalls ein Grund gewesen wäre, meine Aktion mit der Augenbraue, die wirklich auf gutem Wege war, jetzt abzubrechen. Ich hantierte also weiter mit meiner Schere, den Kopf zum Spieglein gebeugt, als plötzlich jemand unmittelbar hinter mit räusperte. Der Schreck fuhr mir in die Knochen, pustete mich vom Sessel hoch, ich stolperte über das Fusskreuz meines Bürostuhls, riss bei der Bewegung mit der Hand mein Spieglein zu Boden, die Kosmetikschere spickte unters Pult, fast hätte ich das Gleichgewicht verloren, doch ich fing mich und kam kerzengerade stehend zum Stillstand. Der Kollege, die rechte Hand des Chefs, blickte mich an.

«Oh, jetzt hast Du mich aber erschreckt», sagte ich.

Er deutete, als ob nichts wär, ein Lächeln an und sagte: «Könntest Du mir bitte eine Kopie der Liste schicken?»

«Ja, natürlich, auf jeden Fall. Mache ich gleich.»

Er nickte und schlich davon.

Mein Herz pochte noch, während ich mich wieder hinsetzte. Ich schimpfte mit mir – wie konnte ich nur so dreist sein, wegen einer Augenbraue meine Stelle riskieren. Ich nahm das Spieglein und die Kosmetikschere, verstaute sie wütend ganz tief in meiner Tasche, atmete einmal tief durch und wandte mich wieder der Kundenliste zu.


Der peinliche Vorfall hatte keinerlei Nachspiel. Am nächsten Morgen empfing mich das Büro des Schweigens wieder in seiner zur Schau gestellten Tristesse. Das Schweigen war sogar noch etwas umfassender als bisher, wie ein Nebel, der die Essenz der platten Sprachlosigkeit in seinen Tröpfchen trägt und sie bis in die letzten Winkel verbreitete, bis in den Spalt zwischen Kaffeemaschine und der Wand zur Bürotoilette hin, bis unter den kaputten Staubsauger, wo es sich eine grosse Spinne gemütlich gemacht hatte. Spiegel, Pinzette und Kosmetikschere hatte ich zuhause gelassen, konzentrierte mich auf die Kundenliste. Ich wollte ernsthaft versuchen, mich mit dem Büro des Schweigens zu arrangieren, mich wirklich einzufügen. Dabei musste ich aber meine Arbeitsgeschwindigkeit dermassen verlangsamen, dass mein Dasein, meine Funktion als Angestellter, einem Witz glich. Ich kontrollierte eine Adresse drei- oder viermal hintereinander, überprüfte vorherige, die ich zuvor schon unzählige Male nachgeschlagen hatte, nochmals – immer in der bangen Furcht, am Ende der Liste, das einer Kante über dem Abgrund glich, anzukommen. Einige Vormittage gelang es mir auf diese Weise, der letzten Zeile der Tabelle Schnippchen zu schlagen. Wo doch viele Wege nach Rom führen, so führten auch viele zum Ende meiner Liste, ich musste sie nur alle sorgsam und gemächlich beschreiten. Doch es kam der Punkt an einem ganz besonders bleiernen grauen Morgen mit tristen und trostlosen Aussichten, an dem ich schweissgebadet mit einer zugeschnürten Kehle und mit einer festen Gewissheit aus dem Schlaf erwachte: Um das Unvermeidliche weiter hinauszuzögern, führte kein Weg an Pinzette, Kosmetikschere und Spieglein vorbei. Nur so konnte ich den Schein einer Beschäftigung an diesen unzähligen Vormittagen, die da noch kommen werden, aufrechterhalten. Doch, dachte ich mir plötzlich: Meine Zehennägel mussten dringend wieder einmal geschnitten werden, also packte ich auch den Nagelknipser mit ein und fuhr zur Arbeit.


Nun war es eine Kunst, meine körperpflegerischen Tätigkeiten am Arbeitsplatz mit dem Mosaik der Geräusche im Büro abzustimmen. Da meine Zehennägel dick und robust sind, war der klickende Ton des Nagelknipsers entsprechend laut und als eben genau diese Tätigkeit zu erkennen. Das Schneiden der Nägel musste ich also mit dem Gesundheitszustand meines Kollegen aus Osteuropa abstimmen – erschien er triefend, niesend und hustend bei der Arbeit, so war der Punkt gekommen, um die Nägel zu schneiden. Dabei musste ich darauf achten, dass der Moment, an welchem ich den Knipser drückte mit dem Höhepunkt seines Hustenanfalls synchron lief. Wie eine Symphonie, deren Ende sich zwar nähert, man aber nie weiss, wann die Pauke den Schlusspunkt setzt. Kam der Kollege aber einmal beschwerdefrei zur Arbeit, dann ging es mit Spieglein und Kosmetikschere der Augenbraue an den Kragen, vom äusseren Rand langsam und sorgsam hinein bis in die Struktur des einzelnen Härchens, dann wieder zurück, und wieder hinein, dann wieder zurück, fortwährend wie das Aufbäumen und Abebben einer Brandung. Und je länger ich auf diese Weise verfuhr, desto mehr verschmolzen die Geräusche im Büro des Schweigens mit meinen körperpflegerischen Tätigkeiten, alles wurde ein Ganzes, ein Tanz, von einem Orchester begleitet, schwungvoll, ja euphorisch. Das ging sogar so weit, dass mir Überraschungen die Hand reichten, wie von alleine sich dazu gesellten: Ich war gerade mit dem linken Fuss fertig, so kam der Chef zu mir ans Pult, da ich für ihn eine Petition unterschreiben sollte. Es war in dem Moment, als beide Füsse unter dem Pult und auf dem Boden waren, auch den Knipser hatte ich in der Hand versteckt, nur das Spieglein lag verräterisch neben der Tastatur, doch das spielte keine Rolle, ich musste einen so konzentrierten, angestrengten, arbeitssamen Eindruck machen, dass für einen kurzen Moment ein freundliches Lächeln über das Gesicht des Chefs huschte und er schweigend glückselig wieder verschwand. So ging das weiter, von den Nasenhärchen über die Augenbrauen bis zu den Zehennägeln und wieder zurück, begleitet vom wohligen Husten, Triefen und Niesen meines Kollegen. Selbst der Trampel aus der Fabrik, der seinen Rotz hochzog, fügte sich ins Mosaik meiner Vormittage ein. Ich hatte den perfekten Workflow gefunden. Die Welt lag mir zu Füssen – bis ich eines Tages keine Zehennägel, keine Augenbrauen und keine Nasenhärchen mehr hatte.


Ich hatte sämtliches Pulver verschossen, mir in Ekstase alles abgeschnitten und abverlangt, mich ausgepresst wie eine Zitrone. Bei mir gab es nichts mehr zu holen – das Büro des Schweigens hatte meinen Körper geschunden, ihn ausgezehrt, aufgefressen, wobei ich selbst Hand angelegt hatte. Und die Exel-Tabelle – auch ihre Wege waren abgetreten, ihr grelles Grün ausgebleicht wie eine Hose, die zu oft gewaschen wurde, ja, noch eine Zeile war da, bei der ich nicht sicher war, ob ich sie erst neunhundertneunundneunzig statt schon tausendmal überprüft hatte. Noch einmal konnte ich Hand anlegen, ein einziges Mal. Ein paar Mausklicks und wenige Fingerübungen auf der Tastatur blieben, aber es war nichts, der Abgrund eilte mir entgegen. Und so griff ich zum letzten Mittel, das einer Waffe glich. Ich nahm meine Partitur zur Arbeit mit.


Bisher hatte ich die Beschäftigung im Büro und meine Arbeit als Dirigent immer strikte getrennt. Der arme Tropf, welcher sich, um Zeit zu schinden, die Augenbrauen, Nasenhaare und Zehennägel verstümmelt hatte, sollte mit dem Dirigenten, der abends bei vollem Konzertsaal ein Orchester anführte, nichts zu tun haben. Mein Gefühl für Takt und Melodie hatten mir dabei geholfen, die Geräusche im Büro des Schweigens und meine körperpflegerischen Tätigkeiten aufeinander abzustimmen, sie in Harmonie zu bringen. Aber die Partitur in diese stumpfe, platte, triste Trostlosigkeit mitzunehmen, das war etwas anderes. Ausser einem Sprung vor den Zug blieb mit jedoch nichts weiter übrig. Ich musste zur Tat schreiten und mit grossem Pathos eben das Schicksal herausfordern, denn wenn ich im Büro erstmal zu dirigieren begann – was konnte da alles passieren? An diesem Morgen liess ich Pinzette, Kosmetikschere, Spieglein und Nagelknipser zu Hause.

 

Die Partitur in meiner Umhängetasche fesselte mich bereits, als ich in den Zug einstieg, der mich zum Büro des Schweigens fahren sollte. Die Noten wurden lebendig, begannen, die Welt zu verändern, sie zu durchdringen. Anfangs dachte ich, ich könne mich zusammenreissen, doch die Musik in mir wurde lauter, meinen Körper durchfuhren Zuckungen eines leidenschaftlichen Dirigenten, es war nicht möglich, mich dieser Kraft zu entziehen. Zwischen morgenmüden Fahrgästen, die in ihr Handy starrten, begann ich mehr und mehr, mich zur Musik zu bewegen, mein Orchester zu dirigieren. Die Zuckungen waren nach aussen hin nicht als Dirigat zu erkennen, denn ein Teil von mir hoffte noch, sich im normalen Trott, in der Existenz als einfacher Angestellter halten zu können, nur bei jedem fünften Takt ging der Dirigent mit mir durch und ich begann hemmungslos herumzufuchteln. Einige Fahrgäste sahen von ihrem Handy hoch, wechselten erschrocken den Platz; Schüler, die unweit von mir sassen, zeigten mit dem Finger auf mich und begannen zu kichern. An einer Haltestelle stiegen bewaffnete Männer in Uniform hinzu, sie durchkämmten den Zug nach Fahrgästen, die nicht auf dem Weg ins Büro des Schweigens waren. Und zu diesem Zeitpunkt wusste ich, dass ich kurz davorstand, vom rechtschaffenen Pfad abzukommen, die Musik hatte mich fast ganz auf ihre Seite gezogen und vor lauter Schreck über den nun eingeschlagenen Weg zuckte ich heftig am ganzen Körper und synchron zur inneren Musik, die sich immer mehr ins Äussere kehrte, und dabei schlug ich einer älteren Frau die Brille beinahe von der Nase. Und als die Uniformierten an mir vorbei streiften, mich mit ihren Blicken fixierten, da spiegelte sich noch einmal alles, drehte sich zurück und ich war wieder dabei, die Zehennägel zu schneiden, die Augenwimpern zu zupfen, die Liste zu kontrollieren, das Spieglein zu verstecken und eine Petition für den Chef zu unterschreiben. Doch die Musik wurde lauter, die  stiegen Männer aus, der Zug fuhr weiter und an der nächsten Station müsste ich im Büro des Schweigens angekommen sein.

 

Bevor der Zug zum Stillstand kam, fuhr er durch eine Menschenmenge und durch die Fenster funkelten feierliche Lichter. Als ich ausstieg, geleitete mich die Welt nicht ins Büro, sondern frontal vor ein grosses Orchester, das ich zu dirigieren hatte, hinter mir ein Konzertsaal, Puppen mit Menschenantlitz hingen von der barocken Decke herab, es waren mein Chef, der Kollege aus Osteuropa und die anderen aus dem Büro. Sie klatschten mir zu und lachten lustig im Sound der Melodie. Auf den Notenständern der Musiker waren Exel-Tabellen zu sehen, und mit den letzten paar Takten war die Liste ausgefüllt, die Tabellen verschwanden und an ihre Stelle traten die Noten der Musikanten. Je näher die Sinfonie ihrem Ende kam, desto mehr verblasste alles, was jemals mit dem Büro des Schweigens zu tun hatte, auch meine Umhängetasche, in der übrigens seit Monaten mein Arbeitsvertrag vor sich hingammelte, war verschwunden und ich – plötzlich ganz Dirigent – setzte zu den letzten Takten eines gelungenen Konzertabends an. Grosser Applaus, Standing Ovation. Vergessen war das Schweigen. Und mein altes Leben.

 

Wie immer nach einem guten Konzertabend trank ich zusammen mit einer Flötistin noch ein Glas Wein an der Bar. Dann machte ich mich auf den Weg nach Hause. Die letzte U-Bahn zur Bernauerstrasse, wo meine Wohnung lag, war schon weggefahren. So winkte ich ein Taxi herbei. Der Fahrer, ein etwas dicklich wirkender Mann mit osteuropäischem Akzent, war erkältet und nieste und hustete auf der ganzen Fahrt. Irgendwie kam er mir bekannt vor. Aber ich war zu müde, um ihn darauf anzusprechen. Die Musik der Sinfonie hallte in mir nach. Bis ich zuhause in einen tiefen Schlaf fiel.

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